Von Unhöflichkeit, Unverschämtheit und dem Sich-Wehren
Ich habe heute einen interessanten Artikel gelesen, in dem es darum ging, wie man mit unhöflichen Menschen umgehen kann. Die Autorin beschreibt Alltagssituationen einer fiktiven Studentin, der ein paar unverschämte Menschen begegnen und wie sie auf sie reagiert. Nachzulesen ist der gesamte Artikel hier.
Als ich den Text las, hatte ich irgendwann ein unangenehmes Gefühl. Und ich wusste nicht wirklich warum.
Die Studentin, Nancy, wird von einer Kundin in ihrem Teilzeitjob angeschnauzt und sie entscheidet sich dafür, das Verhalten der Kundin zu ignorieren und sich einzureden, dass die Kundin vielleicht einen schlechten Tag hatte und deshalb so unhöflich war.
Diese Mentalgymnastik führt dazu, dass sich Nancy durch die Unhöflichkeit nicht angegriffen fühlt und sie ihre Arbeit weiterhin gut erledigen kann.
Als nächstes muss Nancy mit zwei StudienkollegInnen eine Präsentation vorbereiten. Wie anscheinend oft bei Gruppenarbeiten der Fall, meiden ihre KollegInnen jegliche Anstrengung, erscheinen zu keinem Treffen und steuern der Präsentation nichts bei. Zusätzlich findet Nancy heraus, dass die KollegInnen nette Stunden zu zweit verbringen, statt sich mit ihr an die Arbeit zu setzen. Nancy macht ein paar mentale Übungen, zählt bis 10, lässt die Dreistigkeit an sich abprallen und stellt die Folien alleine zusammen.
Erst nachdem der Professor die Präsentation lobt, und der Studienkollege lügt, steht Nancy für sich und ihre Arbeit ein.
Der Professor bedankt sich für ihre Ehrlichkeit, die gesamte Gruppe erhält eine gute Note und Nancy fühlt sich anerkannt und ihre Leistung gewürdigt.
Der Artikel endet recht abrupt – alle sind happy. Außer mir. Ich bin irgendwie nicht happy.
Es hat etwas gedauert, bis ich draufgekommen bin, warum:
Ich habe mich über Nancy geärgert.
Ich war irrational wütend, dass sie so ein „pushover“ war und erst dann für sich eingestanden ist, als ihr Studienkollege dem Professor sagt, dass seine Freundin die Folien aufbereitet habe und sie deshalb so gut seien. Erst dann, erst bei dieser Lüge, die tatsächlich nichts mehr mit Unhöflichkeit zu tun hat, sondern wirklich schon ins Territorium der Unverschämtheit abgerutscht ist, macht sie ihren Mund auf.
Sofort habe ich mir überlegt was passiert wäre, hätte der Kollege das nicht gesagt. Hätte er sich stattdessen im Namen der Gruppe einfach für das Kompliment des Professors bedankt. Hätte Nancy dann irgendetwas gesagt? So wie der Artikel geschrieben ist, wage ich zu behaupten, dass nein... dann hätte sie nichts gesagt.
Warum aber auf eine fiktive Person für ihre fiktiven Handlungen, oder besser, Nichthandlungen, wütend sein?
Weil ich meine eigene, innere Nancy habe. Weil ich mich an Situationen erinnern kann, in denen ich nicht für mich selbst eingestanden bin, in denen ich innerlich gekocht habe und den Mund trotzdem nicht aufgebracht habe. In denen Höflichkeit meinerseits wichtiger war, als für meine Rechte, meine Leistung einzustehen. Und hier ist Nancy, die auch nicht "rechtzeitig" für sich selbst einsteht.
Aber was heißt schon rechtzeitig?
Von Nancy können wir viel lernen
Nancy lässt die Unhöflichkeit der Kundin von sich abprallen und schützt damit ihre eigenen Emotionen und ihre Stimmung für den Rest des Tages.
Wir sollten tatsächlich nicht alles persönlich nehmen, was in unsere Richtung gesagt wird. Von Fremden angeschnauzt zu werden ist nie schön und sollte auch nicht passieren, aber falls es das doch tut, dann brauchen wir eine dicke Haut, bei der solche Dinge abprallen können, ohne dass sie uns direkt treffen.
Und jedeR von uns war sicher schon in einer Situation, in der wir unser Gegenüber nicht sehr respektvoll behandelt haben, obwohl das im Normalfall nicht unsere Art ist. Weil wir vielleicht gestresst waren, in der Früh mit dem Partner gestritten haben und generell einen schlechten Tag hatten. Gut, sollte auch nicht passieren, aber wir sind halt alle auch nur Menschen.
Im zweiten Teil entscheidet sich Nancy dafür, dass ihr ihre Zeit zu schade ist, sich über die StudienkollegInnen zu ärgern. Sie entscheidet sich dafür, die Arbeit der Gruppe komplett zu übernehmen, damit sie selbst nicht in Schwierigkeiten kommt. Liegt sie damit richtig? Hätte sie nicht direkt zum Professor gehen können, um sicherzustellen, dass ihre Leistung auch gewürdigt wird? Sicher. Das hätte sie tun können.
Nancy aber scheint sich selbst gut genug zu kennen, dass sie weiß, dass das einen inneren Stress auslösen würde, mit dem sie sich nicht herumschlagen möchte. Laut des Artikels geht es ihr mit dieser Entscheidung gut.
Erst als Unhöflichkeit zu Unverschämtheit umschlägt, ist für Nancy eine Grenze erreicht. Als der Kollege lügt, beschließt sie, sich zu wehren.
Mein persönlicher Ärger, den ich beim ursprünglichen Lesens des Artikels verspürt habe, lässt sich auf die Tatsache zurückführen, dass ich mich manchmal eben nicht gewehrt habe, als meine innere Grenze überschritten wurde.
Ich habe auch erst mühsam lernen müssen, die innere Grenze überhaupt zu erkennen. Und heute weiß ich, dass ich nicht so nett wie Nancy sein würde. Ich würde mich schon in der Vorbereitungszeit bei meinem Professor melden. Da wäre meine Grenze bereits überschritten worden.
Und daher habe ich mich über Nancy auch geärgert – weil sie eben nicht so reagiert hat, wie ich das heute täte.
Die Lektion, die wir alle lernen sollten ist, dass wir eine persönliche Grenze haben, die wir subjektiv setzen und abstecken. JedeR von uns ist anders, jedeR von uns reagiert unterschiedlich auf Beleidigungen, Angriffe und Dreistigkeit. Und jedeR von uns hat das Recht dazu, diese Grenzen selbst zu setzen.
Es würde nichts bringen, unsere eigenen Grenzen jemandem anderen aufzuzwingen. Das würde weder uns, noch die andere Person glücklich machen. Man lernt nie aus und der Artikel hat mir, unabsichtlich, vor Augen geführt, dass ich persönlich hier noch etwas an mir arbeiten muss.
Nancy jedenfalls ist mit ihrer Entscheidung zufrieden und sie ärgert sich im Nachhinein nicht über sich selbst. DAS ist das Wichtige.
Bitte Achtung: Dieser Artikel ist für Alltagssituationen gedacht. Die inneren Grenzen von Menschen, die täglicher Gewalt ausgesetzt sind, können durch anhaltende Bedrohungen verzerrt werden. Sollten Sie oder jemand, den Sie kennen, sich in einer bedrohlichen Situation / Beziehung befinden, rufen Sie eine Notfallsnummer an: Frauennotruf & Männernotruf
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