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Die Macht der Berührung

Von der Körperpflege bis hin zur Lebensnotwendigkeit


Während der ersten Lockdowns 2020, als sich die Welt eingeschlossen hat, kamen viele Dinge ans Licht, an die, zumindest ich, vorher nicht gedacht hatte. Wir wissen alle, dass diese Zeit schwierig war und dass die Auswirkungen bis heute spürbar sind.

Für mich, und für etliche andere, mit denen ich gesprochen habe, war Einsamkeit ein großes Thema, obwohl wir alle versucht haben, zumindest verbalen Kontakt mit unseren Liebsten zu halten.

Es hat gedauert, bis ich realisiert habe, dass es vor allem der Berührungsverlust war, der mich betroffen hat.

Mir war vorher gar nicht klar wie oft ich jemanden angreife oder angegriffen werde. Als das plötzlich weg war, ging es mir nicht gut.

Und ich bin nicht die Einzige.



Etliche Studien haben gezeigt, dass der Verlust von intimen Berührungen zu Stimmungs- und Angstsymptomen führen kann. Und diejenigen, die von nahe stehenden Menschen nicht oft berührt werden, berichten von verstärkter Einsamkeit, selbst wenn sie verbalen Kontakt haben.


Alle Säugetiere berühren sich gegenseitig.

Körperkontakt ist eine Form der Kommunikation, die für viele sogar lebenswichtig ist.


Das vergessen wir Menschen ganz gerne, weil wir uns so auf unsere verbale Sprache konzentrieren. Die ist natürlich wichtig, aber die erste Sprache, die wir lernen, ist die der Berührung. Nicht umsonst beruhigen sich die meisten schreienden Babies, wenn sie getragen werden und nicht umsonst stecken Kleinkinder generell gerne alles in den Mund.


Gegenseitige Körperpflege

Die Säugetiere, die uns am nächsten sind, also die so genannten Menschenaffen (bzw. alle Affen, aber schauen wir uns einmal die größeren an), berühren sich ständig gegenseitig. Sie betreiben Fellpflege, suchen sich also gegenseitig nach Parasiten ab oder putzen sich.



Das ist auf der einen Seite natürlich praktisch, weil es schwierig ist, sich selbst den Rücken zu putzen, aber hat auch eine ungemein wichtige soziale Komponente.

Studien haben gezeigt, dass ein Affe viel bereiter ist, sein Essen mit demjenigen zu teilen, der ihn vorhin gepflegt hat. Und dass diese Pflege dazu dient, streitende Affen zu beruhigen, den sozialen Status in der Gruppe festzulegen und Beziehungen zu verbessern.



Das nach Parasiten absuchen machen bei uns Menschen heute nur mehr Eltern/Erziehungsberechtigte und Krankenpfleger*innen, vor allem wenn es um Laus-befallene Kopfhäute des Nachwuchses geht. Aber auch das gegenseitige Pflegen ist bei uns immer noch ein wesentlicher Bestandteil des Beziehungsaufbaus.


Wir baden unsere Kinder, wischen ihnen den schmutzigen Mund ab und helfen ihnen beim Zähne putzen und beim Stuhlgang. Und auch später betreiben wir vor allem Rückenpflege – sei es, die Sonnencreme großzügig zu verteilen, oder im Bad den Rücken zu waschen. Manche genießen es auch, wenn ihnen der Rücken gekratzt wird, oder – und ja, für manche vielleicht etwas grausig – wenn Pickel ausgedrückt werden.

Soweit zur eigentlichen Körperpflege.


Unser Körperkontakt hört da allerdings bei Weitem nicht auf. Verbale Äußerungen werden durch Körperkontakt unterstützt, verstärkt und manchmal auch ersetzt. Eine feste Umarmung sagt weit mehr aus als ein „Ich hab dich vermisst.“, ein durch die Haare streichen ist oft eine nonverbale Liebesbotschaft und ein Händchen halten indiziert eine intime Verbindung (nicht unbedingt eine romantische, aber eine intime).

Und obwohl wir heute unseren sozialen Status mit anderen Mitteln festlegen, wird ein fester Händedruck trotzdem anders gewertet als ein lascher.


Artenübergreifend

Eine Besonderheit von uns Menschen ist, dass wir den Drang haben, andere, nicht menschliche Lebewesen zu berühren und zu streicheln. Das machen Tiere in dieser Form in der freien Wildbahn nicht. Wenn sie gemeinsam leben, so wie Hunde und Katzen in einem Haushalt, kann es natürlich schon zu einer artenübergreifenden Freundschaft kommen, aber „normal“ ist das nicht. (Hier muss kurz gesagt werden, dass es schon dokumentierte Beispiele für in der Wildnis vorkommende „Freundschaften“ gibt – hier nachzulesen – aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel.)

Dieser Drang, der Menschen anscheinend „eingebaut“ ist, hat uns geholfen, Tiere zu domestizieren und ist auch Teil des Grundes, warum wir heute, obwohl es nicht mehr überlebensnotwendig ist, Haustiere haben.


Die Berührung eines Hundes zum Beispiel, löst bei uns Glücksgefühle aus und Therapiehunde werden oft eingesetzt, um Trost zu spenden.

Und viele werden das kennen; wir bewegen uns keinen Zentimeter, wenn die Katze im Schoß eingeschlafen ist.


Ein Schwank aus meinem Leben: Der Hund meines Bruders hatte, als wir letztens beim Tierarzt waren, so viel Angst, dass sie mir auf den Schoß geklettert ist, obwohl sie das eigentlich nie macht. Sie hat hier von mir Trost und Schutz gesucht – durch Körperkontakt. (Keine Sorge, nach dem Besuch hat sie ein Knochi bekommen und alles war wieder gut.)


Das Bedürfnis nach Nähe

Am wichtigsten ist Körperkontakt aber für die Jüngsten unter uns. Babies, die nicht (viel) gehalten werden, entwickeln sich viel schlechter als andere. In der Entwicklungspsychologie erforscht man die so genannte Bindungstheorie, die besagt, dass Säuglinge das angeborene Bedürfnis nach Nähe, Zuwendung und Schutz haben. Körperkontakt ist hier extrem wichtig.

Ganz deutlich sieht man das bei Frühchen, also Babies, die, aus welchen Gründen auch immer, zu früh auf die Welt kommen. Definiert wird eine Frühgeburt als ein Baby, das vor der Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche geboren wird oder weniger als 2.500 g wiegt.


Diese so genannten Frühchen müssen nach der Geburt oft in einen Inkubator (auch Brutkasten genannt), weil ihre Lungen noch nicht ausreichend entwickelt sind, oder sie sonstige medizinische Schwierigkeiten haben. Dort werden sie warm gehalten und mit lebenswichtiger Medizin versorgt.

Vor der Erfindung dieser Inkubatoren sind die meisten Frühchen schnell verstorben, also sollten wir uns alle glücklich schätzen, dass sie existieren.

Aber ein Inkubator kann die Gebärmutter nicht ersetzen und es fehlt den Frühchen an direktem Kontakt.


Die Känguru Methode

Bei Kängurus kommt der Nachwuchs nackt und kaum größer als eine Erdnuss auf die Welt. Er ist mindestens so unreif wie ein menschliches Frühchen, bleibt aber nach der Geburt im Beutel der Mutter, saugt sich dort an der Zitze fest und verbleibt, bis er etwa einem Viertel des Körpergewichts der Mutter entspricht.


Diese physiologische Besonderheit haben Kängurus, Opossums, Wombats und Koalas, also die so genannten Beuteltiere evolutionär entwickelt, um die anstrengende Tragezeit zu verkürzen. Ihr Nachwuchs entwickelt sich jedoch genauso gut wie solcher, der länger in der Gebärmutter bleibt.


Dieser Fakt wurde 1978 von dem kolumbianischen Kinderarzt Edgar Rey Sanabria aufgegriffen, der, aus der Not heraus, weil Inkubatoren fehlten und Frühgeburten reihenweise starben, die Känguru Methode entwickelte.

Hierbei wurden die Frühchen direkt an die Brust der Mutter (oder des Vaters) geschnallt und verblieben dort 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, bis sie das magische Gewicht von 2.500 g erreicht hatten.


Es dauerte dann noch gut dreißig Jahre, bis die Methode wissenschaftlich erforscht und in weiten Teilen der Welt eingesetzt wurde. (Hier ist ein toll geschriebener Artikel, der die gesamte Geschichte beleuchtet, und wirklich spannend ist.)


Die Känguru Methode – oder das „Känguruhen“ – wird in unseren Breitegraden in Kombination mit dem Inkubator eingesetzt, also anders als ursprünglich entwickelt. Hier liegen die Frühchen nur ein paar Stunden am Tag auf der Brust des Elternteils.

Ob das jetzt besser oder schlechter ist, sei dahingestellt und kann ich auch nicht beurteilen.


Fakt ist jedoch, dass es sich bei der Methode nicht nur um Bindungsaufbau handelt, sondern dass die Frühchen davon einen ungemeinen medizinischen Vorteil erhalten. Herz- und Atemfrequenz normalisieren sich früher, der Säugling kann sich erfolgreicher selbst regulieren, ist ruhiger und schläft besser.

Eine Langzeitstudie, die sich den Effekt auf „Känguru-Babies“ nach zwanzig Jahren angesehen hat, fand, dass diese Kinder weniger hyperaktiv und viel sozialer sind als jene in der Kontrollgruppe.


Körperkontakt ist eine magische Medizin, die wir noch nicht wirklich verstehen. Die positiven Resultate sind aber nicht zu übersehen oder zu unterschätzen.


Blinde Unterscheidung

Und zum Schluss noch eine faszinierende Studie, die diesen Blogbeitrag eigentlich inspiriert hat.

Wir Menschen können unterscheiden, wie eine Berührung am Arm eigentlich gemeint ist.

Forscher*innen ließen Teilnehmer*innen den Arm einer anderen Person berühren, mit der Aufgabe, verschiedene Emotionen zu übermitteln – Aufmerksamkeit, Liebe, Freude, Unterstützung, Traurigkeit und Dankbarkeit.

Zuerst wurden die Arten der Berührungen zwischen sich kennenden Menschen analysiert und dann zwischen Fremden repliziert.

Und es stellte sich heraus, dass Fremde die Art der Berührung statistisch signifikant benennen und interpretieren konnten.

Wir lernen also, was eine Berührung bedeutet. Und es zeigt, dass die Sprache der Berührung, ähnlich wie Körpersprache, intuitiv und vielleicht auch universal ist (wobei hier mehr Forschung notwendig ist).


Körperkontakt ist, so kann man das sagen, lebensnotwendig.

Ja, man kann auch ohne (über-)leben, aber lustig ist es nicht.


Und daher mein Tipp; Wenn Ihnen Berührungen abgehen, dann reden Sie mit Ihren Liebsten darüber. Fragen Sie nach dem, was Sie brauchen.

Aber - wichtig! - immer gilt, dass Berührung auch erwünscht sein muss. Niemand will ungewollt angefasst werden. Consent, consent, consent.

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