„Warum tun die das?“ Eine Frage, die ich mir seit mehr als einer Woche stelle. Und hier möchte ich gar nicht in die verzwickte (geo-)politische Lage Israels und Palästinas eingehen. Es geht mir nicht darum, wer Recht hat oder mehr leidet. Klügere und in diesem Bereich besser gebildete Menschen als ich analysieren die Situation im Gaza seit Tagen, gehen auf geschichtliche Hintergründe ein und checken Fakten. Ich war vor Jahren einmal in Israel, und habe dann einen halben Tag im Westjordanland verbracht. Das wars. Ich kann hier nicht mitreden.
Was ich allerdings tun kann, ist mich mit den wissenschaftlichen Studien über Terror, Terrorattacken und Terrorist*innen auseinanderzusetzen, und dann herunterzubrechen, was wir glauben zu wissen. Und zwar so, dass es hoffentlich für jede*n halbwegs verständlich ist.
Terror
Das Wort „Terror“ kommt vom lateinischen terrere, und heißt „Schrecken“ oder im Verb auch „in Schrecken versetzen“ [eng.: „to frighten“]. Die moderne Verwendung des Wortes „Terrorismus“ lässt sich auf das 18. Jahrhundert und die Französische Revolution zurückführen. Aber Terrorismus selbst ist kein modernes Phänomen. Mit den ersten Zivilisationen kamen erste intermenschliche Konflikte, und damit erste „Terroranschläge“. Seit also manche Gruppen mitbekommen haben, dass sie eine große Anzahl an Menschen einschüchtern können, indem sie einen kleineren Teil der Population angreifen.
In unserem modernen, technologischen Zeitalter wird unter Terrorismus die Androhung bzw. Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung bestimmter (z.B. politischer oder wirtschaftlicher) Ziele verstanden. Der Terror wird dabei als Druckmittel eingesetzt, um in Staaten oder Organisationen Instabilität zu erzeugen. Das kann durch Attentate geschehen, durch Selbstmordanschläge oder auch durch Entführungen.
Definition: Terrorismus ist (1) eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die (2) punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch (3) mit der Absicht psychischer Wirkung auf weit mehr Personen als nur die physisch getroffenen Opfer (4) im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden.
Soll heißen, beim Terrorismus geht es nicht hauptsächlich um den physischen Schaden, den Attentate anrichten. Vielmehr geht es darum, in der gesamten Population Furcht und Angst auszulösen.
Psychologisch gesehen, kann Terrorismus von verschiedenen Seiten betrachtet werden. Einerseits enthalten eigentlich alle, auch konventionelle, bewaffnete Konflikte ein Element des Terrors. Warum überhaupt mit Krieg drohen, wenn es nicht das Ziel ist, den „Feind“ einzuschüchtern, damit dieser Forderungen nachgeht? Und wenn dann Widerstand geleistet wird, besteht das Ziel eindeutig darin, möglichst viel Angst zu schüren, um die Wahrscheinlichkeit einer Kapitulation zu erhöhen.
In Situationen, in denen die Streitkräfte einer Seite der anderen Seite technologisch und/oder zahlmäßig unterlegen sind, sind Terrorattacken für die kleinere Gruppe "gute" Möglichkeiten, eine unverhältnismäßige, psychologische Macht über die größere Gruppe auszuüben.
Einen klassischen Kampf, wie wir ihn aus Filmen kennen, in dem beide Gruppen einander direkt angreifen, würde die kleinere Gruppe verlieren, also werden andere Methoden angewandt.
Terroristische Typologien
Ein Terroranschlag ist, historisch gesehen, kaum das geplante Ende eines Konflikts. Vielmehr geht es darum, Furcht und Schrecken in einer Population auszulösen, indem ein repräsentativer Teil dieser Population zum Anschlagsziel wird.
(Wer eine genaue Auflistung terroristischer Typologien haben will, sollte sich diesen Artikel ab Seite 108 durchlesen – sehr spannend, aber für diesen Beitrag zu lang und ausführlich.)
Generell können zwischen zwei Hauptmotivatoren unterschieden werden; das Zwingen zur Handlung im Instrumentellen Terrorismus und das Vernichten im Vergeltungsterrorismus.
Beim Instrumentellen Terrorismus geht es hauptsächlich darum, eine Zielgruppe durch Anschläge und Attacken zu einer Handlung oder einer Aufforderung zu zwingen. Zumindest theoretisch endet der Terror, wenn die Forderungen erfüllt werden oder ein Kompromiss gefunden wird.
Beim Vergeltungsterrorismus hingegen geht es nicht in erster Linie darum, Feinde zu beeinflussen, sondern sie, und das kann man nicht schönreden, zu vernichten.
Hier wird die Zielperson nicht wegen ihrer Taten gehasst, sondern wegen der reinen Tatsache, dass sie existiert, sodass nichts Geringeres als ihre vollständige Vernichtung ausreichen wird.
Wichtig zu verstehen ist, dass sich instrumentelle und vergeltende Terrorgruppen häufig vermischen und selbst untereinander unklar definiert sind, was wirksame Reaktionen auf sie zusätzlich erschwert.
Terroristische Ziele und Strategien
Beim Analysieren moderner, terroristischer Aktivitäten scheinen manche Elemente nahezu universell zu sein:
Anhand des Beispiels des 11. Septembers 2001 können alle vier Elemente deutlich herausgearbeitet werden.
Extreme Gewalt. Statt Raketen wurden Flugzeuge verwendet. Flugzeuge, in denen nichtsahnende Menschen saßen. Flugzeuge, die an einem gewöhnlichen Wochentag in vordefinierte Gebäude gesteuert wurden. Eine Atmosphäre der Angst wurde geschaffen, weit über New York City hinaus.
Maximaler Propagandawert. Ich war damals gerade einmal elf Jahre alt, und selbst ich kann mich noch an den Tag des Anschlags erinnern. Je höher der Propagandawert, desto mehr Medienberichterstattung. Diese Berichterstattung bietet dann eine Plattform, um die eigenen Ideologien zu verbreiten. Wenn das Ziel weniger darin besteht, Sympathie für die eigenen Ideologien zu erschaffen, sondern im Gegenteil, so viel Schmerz und Panik wie möglich zu verursachen, dann kann wahlloses Töten „gute Dienste“ leisten: Die Zielbevölkerung sollte besser gehorchen, weil diese Terrorist*innen „zu allem fähig sind“.
Unkonventionelle, militärische Taktiken. Das ist der häufig zitierte Unterschied zwischen Terrorist*innen und Soldat*innen. Auch hier gilt; wenn das Ziel darin besteht, größtmögliche Panik zu verursachen, ist es sinnvoll, Orte auszuwählen, an denen sich die meisten Opfer aus allen Gesellschaftsschichten befinden. Jede*n kann es treffen. Niemand ist sicher. Und keiner kann vorhersehen, wann was passiert.
Absolutistische Loyalität. Die Terroristen an Bord der Flugzeuge opferten für ihre Ideologien ihre eigenen Leben. Diese Bereitschaft erfordert einen unerschütterlichen Glauben, dass ihre Taten irgendwie einem transzendenten und würdigen Zweck dienen. Hier gibt es natürlich auch Ausnahmen, doch generell kann gesagt werden, dass es sich bei der Mehrheit der Terrorist*innen nicht um „Teilzeitbeschäftigte“ oder Söldner*innen handelt.
Sind Terrorist*innen psychisch krank?
Wie weit geht man, um das eigene Gedankengut nicht nur zu verteidigen, sondern mit Gewalt durchsetzen zu wollen? Was bringt einen dazu, so sehr an etwas zu glauben, dass ein Selbstmordattentat die einzige und beste Lösung darstellt?
Die müssen doch alle krank sein, oder?
Es ist verlockend, schockierendes und abscheuliches Verhalten als „verrückt“ zu bezeichnen. Weil, wenn die alle „gestört“ sind, dann haben wir nichts falsch gemacht. Dann hätten wir nichts dagegen tun können – „die sind halt alle Psychos“.
Die Pathologisierung einer Gewalttat, egal ob wir von einem Terroranschlag oder einem Amoklauf sprechen, lässt zu, dass jegliche, mögliche Rechtfertigungen, die der Tat eventuell zugrunde liegen, ignoriert werden können.
Das ist einfacher. Das schützt vor der vorsätzlichen Böswilligkeit und errichtet eine psychologische Barriere zwischen unserem Wissen über die Tat und der allumfassenden Angst und Hoffnungslosigkeit, die durch dieses Wissen hervorgerufen werden können.
Tatsächlich haben die wenigen Studien, die den Geisteszustand gefangengenommener Terrorist*innen direkt untersucht haben, keine signifikanten Anzeichen einer geistigen Beeinträchtigung oder schweren psychischen Störung feststellen können.
Stattdessen ist ein viel differenzierterer Blick gefragt, um zu verstehen, wie es dazu kommen kann, dass jemand ein Attentat freiwillig, und mit vollster Überzeugung, durchführt.
Die Entwicklung einer terroristischen Denkweise
(Hier will ich kurz anmerken, dass vieles was folgt aus diesem Artikel entnommen und zusammengefasst wurde. Er ist auf englisch, aber sehr gut zu lesen und ich würde allen, die es können, und die dieses Thema interessiert, sehr anraten, ihn zu lesen.)
Wenn sich Menschen ausgebeutet, unterdrückt und verfolgt fühlen, und sie ohne eine drastische Veränderung wenig bis gar keine Chancen auf eine Verbesserung ihrer Situation sehen, macht sie das anfällig, für organisierte Terrororganisationen rekrutiert zu werden.
Von Borum (2003) wurde ein Modell entwickelt, das die Entwicklung terroristischer Denkweisen in vier Phasen unterteilt:
Wie viel ist dein Leben wert?
Für manche Menschen mag der Tod im Namen einer edlen Sache der einzige Akt sein, der dem Leben seinen ultimativen Sinn gibt. Das ist für viele nicht verständlich. Vor allem für die nicht, die andere Dinge haben, die das Leben lebenswert machen.
Religion und der Glaube an ein Leben nach dem Tod spielen hier natürlich auch eine Rolle. Wenn ich davon ausgehe, dass ich für meine Tat belohnt werde, ist es leichter, sie durchzuführen.
Und dann darf man nicht vergessen, dass wir in unzähligen Jahrtausenden menschlicher Evolution in eng verbundenen, voneinander abhängigen, insularen Stämmen gelebt haben. Die Welt ist erst seit sehr, sehr kurzer Zeit so groß. Da ist es leicht zu erkennen, warum wir besonders unter Bedingungen von Stress, knappen Ressourcen und Konflikten von den Ideologien und Überzeugungen unserer eigenen Gruppe so angezogen sind. Es ist ein Mechanismus, der uns beim Überleben geholfen hat.
All diese Dinge spielen auch bei „altruistischen Heldentaten“ eine Rolle. Der Soldat, der sich für andere auf eine Granate wirft. Eine Frau, die sich in den Weg eines Schützen stellt.
Der Unterschied scheint klar. Die einen retten damit Leben, die anderen – Selbstmordattentäter*innen – vernichten Leben.
Beide jedoch geben ihr eigenes Leben für etwas auf, das für sie einen Wert hat. Physisch sterben sie, aber sie retten dabei die eigenen „Leute“ (- diese Rettung muss nicht physisch sein), und damit leben auch sie letztendlich auf eine gewisse Art und Weise weiter.
Terrorismus stoppen
Die Standardreaktion auf Terror ist ein Vergeltungsschlag. So schnell wie möglich wird herausgefunden, wer und wo die Täter*innen sind. Dann wird zurückgeschlagen – hart und kompromisslos. Alles in der Hoffnung, dass anderen, die ähnliche Anschläge planen, eine präventive Lektion erteilt wird.
Systemische Analysen zeigen jedoch, dass diese Vergeltungsschläge häufig nicht nur nicht in der Lage sind, weiteren Terror abzuschrecken und Terrorist*innen zu entmutigen, sondern möglicherweise nur endlose Zyklen der Vergeltung aufrechterhalten.
Gar nichts zu tun und den Terror zu ignorieren ist aber auch keine Lösung. Wir wollen uns dem Terror ja auch nicht beugen. Wollen nicht „schwach“ sein. Studien zeigen außerdem, dass betroffene Bevölkerungen Vergeltungsschläge nicht nur erwarten, sondern auch gutheißen. Wir wollen das Gefühl haben, dass wir von unseren Regierungen beschützt werden. Wir wollen hören, dass die Täter*innen gestoppt wurden. Wie? Am besten komplett.
Also wird zurückgeschlagen. Und dabei werden oft auch unschuldige Menschen der anderen Gruppe erwischt, wodurch sich die Wut weiter hochschaukelt.
Es ist ein Teufelskreis, und einer, der nur sehr schwer, und erst recht nicht in der Hitze des Gefechts gestoppt werden kann.
Gibt es dann überhaupt einen Weg, Terror zu stoppen? Die EU zumindest versucht es durch präventive Maßnahmen. Verbesserte Sicherheitskontrollen, erhöhte Überwachung, vermehrter Informationsaustausch, Dialoge... Was alles wiederum gänzlich andere Probleme mit sich bringt und akuten Opfern eines Anschlags auch nicht hilft.
Mir fällt hier auch keine „gute“ Lösung ein. Vielleicht gibt es gar keine. Solange es Menschen gibt, die sich unterdrückt, ausgebeutet und verfolgt fühlen, wird es auch Terroranschläge geben. Und solange es Terroranschläge gibt, wird es Vergeltungsschläge geben.
Was allerdings klar sein muss, ist dass sich diese Welt, mit unseren heutigen Technologien und Waffen, keinen dritten Weltkrieg leisten kann.
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