Vom Dahindümpeln und dem emotionalen Stagnieren
Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass sich die Menschen in Ihrem Umfeld im letzten Jahr verändert haben. Manche erzählen Ihnen vielleicht, dass sie Probleme damit haben, sich zu konzentrieren. Oder dass sie sich, trotz Impfaussicht für den Coronavirus, nicht wirklich auf den Rest des Jahres freuen können.
Vielleicht haben Sie auch bei sich selbst bemerkt, dass Sie sich einen bestimmten Film schon zum hundertsten Mal anschauen, obwohl Sie eigentlich schlafen gehen müssten und den Film bereits auswendig kennen. Oder dass Sie in der Früh Schwierigkeiten haben, aus dem Bett zu kommen und stattdessen, vielleicht stundenlang, noch am Handy spielen.
Ist es ein Burnout? Nicht, wenn Sie noch Energie aufbringen können. Ist es eine klinische Depression? Nicht, wenn Sie sich nicht komplett hoffnungslos fühlen.
Was ist es dann? Warum haben wir das Gefühl, dass wir uns manchmal durch einen dichten Nebel bewegen? Warum ist alles, was uns vorher leicht von der Hand ging, plötzlich einfach nur mühsam? Warum fühlen wir uns im Moment einfach nur „meh“?
Mentale Gesundheit, kurz erklärt
In der Psychologie ist oft die Rede von einem Spektrum der mentalen Gesundheit. Auf der einen Seite Depression, auf der anderen Seite „Flourishing“ (Übersetzung: Aufblühen), also die ideale Lebensweise, geprägt vom Meistern der Lebensaufgaben, von perfekten Resilienzen und vom persönlichen Wachstum.
Wie bei jedem Spektrum, fallen die meisten von uns irgendwo in die Mitte – also unter durchschnittlich gute mentale Gesundheit.
Was ist aber mit jenen unter uns, die zwar nicht als klinisch depressiv gelten, deren mentale Gesundheit sich aber dennoch merklich verschlechtert hat?
Eine etwas vergessene Kategorie, über die nicht viel geforscht wird, ist das so genannte „Languishing“, oder, auf Deutsch, das „Herumdümpeln“, das emotionale stagnieren.
Der Sozialforscher Corey Keyes untersuchte als erstes, wie viele von uns in welche Kategorie einzuordnen sind. Seine Ergebnisse sind hier, hoffentlich übersichtlich, dargestellt:
Das war im Jahr 2002. Und obwohl solche Studien üblicherweise, mit kleinen Abweichungen, bei einer Replikation ähnliche Zahlen aufweisen, dürfte sich die Gruppe des „Languishings“ im letzten Jahr deutlich vergrößert haben.
Languishing bedeutet im Prinzip das Nichtvorhandensein von Wohlbefinden. Man hat weder Symptome einer klinischen Depression, noch ist man eigentlich guter mentaler Gesundheit. Man funktioniert einfach nicht so, wie man sollte. Languishing drückt die innere Motivation, stört die Konzentrationsfähigkeit und verdreifacht sogar die Chancen, dass man sich in der Arbeit weniger bemüht.
Corey Keyes Forschung zeigte, dass diejenigen Menschen, die in den nächsten zehn Jahren am ehesten an Depressionen und/oder Angststörungen leiden werden, nicht die sind, die heute bereits solche Symptome zeigen, sondern die, die in die Gruppe des Languishings fallen.
Auf heute umgelegt, zeigte eine Studie von italienischen, im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen, dass jene, die im letzten Jahr Symptome des Languishings zeigten, heute viel eher von Posttraumatischer Belastungsstörung betroffen sind also solche, die in die Kategorie des „Flourishings“ fielen.
Was genau ist die Gefahr am Languishing?
Wenn man emotional stagniert läuft man Gefahr, nicht mitzubekommen, dass man weniger Freude empfindet, oder dass die Motivation schwindet. Man realisiert schlicht und ergreifend nicht, dass man sich emotional zurückzieht; man ist gegenüber seines eigenen Desinteresses abgestumpft.
Wenn man sein eigenes Unwohlsein nicht wirklich mitkriegt, ist es viel unwahrscheinlicher, dass man sich Hilfe holt, oder dass man sich aufraffen kann, sich selbst zu helfen.
Und auch wenn Sie selbst nicht dahindümpeln, kennen Sie vielleicht jemanden, der in die Kategorie des Languishings fällt.
Das Kind beim Namen nennen
PsychologInnen meinen, dass es hilfreich ist, Emotionen einen Namen zu geben. Erst dann kann wirklich mit ihnen umgegangen werden.
Letztes Jahr, nach Beginn der Pandemie, fühlten sich viele Menschen irritiert und wussten nicht genau, warum. Wir haben getrauert. Wir trauerten um unsere gewohnte Normalität, trauerten teilweise vielleicht auch um verstorbene Angehörige. Trauer. Wir nannten das Gefühl beim Namen. Vielen half diese Definition.
Die meisten von uns wissen, zumindest theoretisch, wie man mit Trauer umgehen kann. Wir aktivierten also Strategien, die schon einmal geholfen hatten und wir gewannen an Selbstvertrauen.
Und nun? Nun müssen wir ein neues Wort in unser Vokabular aufnehmen.
Eine offiziell anerkannte Übersetzung zu languishing gibt es in der deutsch-sprachigen Forschung noch nicht. Aber wenn wir Synonyme verwenden, die vom Gegenüber verstanden werden können, wenn wir zumindest versuchen, unser kollektives Gefühl zu benennen… dann ist das der erste Schritt.
Tipps gegen das emotionale stagnieren
Die Forschung zeigt, dass es nicht gut für uns ist, vor allem auf lange Sicht, zu languishen.
Was kann man also tun, um aus dieser Kategorie wieder herauszukommen?
Die Antwort könnte das so genannte „flow" sein. Ja, schon wieder ein englisches Wort, aber wenn man es übersetzen möchte, könnte man es als „fließen, rinnen, strömen“ bezeichnen.
Damit ist der Zustand gemeint, gänzlich in einer Tätigkeit aufzugehen, die als angenehm empfunden wird und zu Zufriedenheit und „freudvollem Erleben“ führt.
Zu Beginn der Pandemie war der beste Indikator für mentales Wohlbefinden nicht etwa Optimismus oder Achtsamkeit, sondern flow. Menschen, die in ihren Tätigkeiten oder Projekten voll und ganz aufgingen, schafften es, languishing zu vermeiden und stattdessen an ihrer Vor-Pandemie-Glücklichkeit festzuhalten.
Wirklich aufgehen können wir in einer Tätigkeit aber nur, wenn wir uns auch darauf konzentrieren können. Wenn wir darin unterbrochen werden, etwa durch kleine Kinder, zusätzliche Arbeitsaufträge oder PartnerInnen, kommt kein guter flow zustande.
Die Lösung? Grenzen setzen und Zeit nur für sich selbst finden.
Nicht immer ganz einfach, ich weiß. Und es muss auch nicht täglich sein. Aber wenn man es doch hinkriegt, einen Block an Zeit nur für sich selbst zu schaffen, dann lautet die Devise:
In vollen Zügen auskosten!
Fokus und kurze, „sinnvolle“ Beschäftigung
Die Pandemie hat bereits viel von uns abverlangt. Und wird das auch weiterhin tun.
Beginnen Sie mit kleinen Erfolgserlebnissen. Selbst das Lösen eines Sudoku-Puzzles, oder das Erraten einer Knobelaufgabe können schon Glücksgefühle auslösen.
Einer der direktesten Wege zum flow ist eine gerade noch schaffbare Schwierigkeitsstufe: eine Herausforderung, die das eigene Können auf die Probe stellt und die eigene Entschlossenheit, es durchzuziehen, ankurbelt. Das bedeutet natürlich, eine bestimmte Zeit am Tag (oder alle paar Tage) für sich herauszunehmen, um sich nur einer Aufgabe zu widmen – einem interessanten Projekt, einem sinnvollem Ziel, einer wertvollen Konversation.
Manchmal braucht es nur einer kleinen Veränderung, um die eigene Energie und den Enthusiasmus wieder anzukurbeln, die in den letzten Monaten verschwunden sind.
Wenn Sie nicht wissen, wie Sie so eine Zeit „für sich“ gewinnen sollen, oder generelle Hilfe brauchen um die ersten kleinen Schritte einzuleiten, können Sie sich gerne direkt bei mir melden und ein Beratungsgespräch ausmachen.
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